Ein Ölteppich im Vorgarten



Bonn - Wenn der Rhein am Bonner Pegel auf die Acht-Meter-Marke klettert, dann wissen die alteingesessenen Bürger im Stadtteil Beuel, was die Stunde geschlagen hat. Und vor allem die Anwohner der Rheinaustraße krempeln die Ärmel hoch: Jetzt heißt es wieder Keller, Garagen und Parterre-Wohnungen leer räumen, das Auto wegfahren. Der Verkehrsweg, gerade einmal durch eine Häuserzeile und die Promenade vom Fluss getrennt, wird zur Wasserstraße, auf der die Boote des Bundesgrenzschutzes Fährdienste leisten und deren Ufer aus den Reihen eilig aufgebauter Stege bestehen.

An der Rheinaustraße wohnt seit vielen Jahren auch der Lehrer Meinhart Rick mit seiner Familie. Und jahrelang wussten die Ricks mit dem Hochwasser routiniert umzugehen. Was waren das für Zeiten: im Frühjahr 1988 etwa, als die Familie in den Urlaub nach Holland fuhr, obwohl das Wasser stieg. Schon züngelten die ersten Rinnsale die Rheinstraße herab. „Da konnten wir gerade noch mit dem Auto bis vors Haus fahren, um die Koffer einzuladen.“ Das Hochwasser kletterte damals auf 8,45 Meter; die Ricks hatten ihre Vorkehrungen getroffen und alles ging gut. In den 80er Jahren traf die Beueler sechs mal ein Hochwasser über acht Meter, zweimal gar deutlich über neun Meter. Sage keiner, die Menschen hätten keine Übung darin gehabt, sich gegen die Fluten zu wappnen.

Aber dann kam das Weihnachtshochwasser 1993, und weil es so schnell stieg, traf es die Anwohner doch unvorbereitet, wie sich Meinhart Rick erinnert. Weil die Ricks aus der Garage und ihrem Lagerraum im Parterre nicht übermäßig viel auszuräumen hatten, mussten sie nur die Schallplattensammlung und einige Stapel Reclam-Hefte opfern und, wie der Familienvater erzählt, auch die Vorräte an Baby-Windeln, die sich voll mit Wasser gesogen hatten. Die Verpackungen platzten, und in der schmutzigen Rheinbrühe trieb nun ein Teppich aus Windeln. Ein Bild, das Meinhard Rick nicht vergessen wird.

Immerhin hatte die Familie die Fahrräder auf den Balkon geschafft und die Weihnachtsgeschenke in Sicherheit gebracht. Am Tag vor Weihnachten 1993 erlebten auch die Ricks den neuen Rekordstand des Rheins (10,13 Meter Bonner Pegel): Das stinkende, schlammige Wasser füllte Keller und Garage. Dort, wo zu Normalzeiten vor dem Haus das Gärtchen der Ricks grünte, trieb ein Ölteppich.

Das Hochwasser rauschte mit ungekannter Gewalt durch die Straße, und vor den Häusern schob die Flut Müll und Unrat, Baum- und Buschwerk und all die Dinge, die der Fluss auf seinem Feldzug durch die bewohnten Gebiete losgerissen hatte, vor sich her. „Die Müllberge hinterher waren höher als die Flutwelle“, erzählt Meinhart Rick. Es stank entsetzlich, und weil viele Hausbesitzer ihre Öltanks damals noch nicht gesichert oder vorsorglich aufgefüllt hatten, trieben immer wieder Öl durchsetzte Wässer heran und hinterließen klebrige Schlieren auf den Wänden.

Weihnachten 1993 - im Haus war der Strom ausgefallen, und auch die Heizung funktionierte nicht mehr. Die Innentemperatur sank auf acht Grad. Die Familie rückte zusammen, eingehüllt in Decken beim Kerzenlicht. Auf dem Camping-Kocher brutzelten Steaks aus dem tauenden Inhalt der Tiefkühltruhe. Eng waren die Wege in der voll gestellten Wohnung, und dank Stromausfall gab es auch keine Weihnachtsmusik auf dem Keyboard, dafür Lieder auf dem Klavier und mit der Flöte. Eine „stille“ Nacht, angefüllt mit Aufregung und Sorgen. Wegen des Stromausfalls gab es auch keine verlässlichen Informationen über Wetter und Fluss. Der Bonner Pegel war längst außer Betrieb. Wer hatte damals schon ein Handy oder gar Internet-Anschluss?

Tagsüber der Blick aus dem Wohnzimmerfenster, das der Familie jahraus, jahrein ganz selbstverständlich die Aussicht auf den schönen Rhein dargeboten hat: Der stetig dahinjagende braune Strom, fast auf Augenhöhe. Immerhin die Kinder haben ihr Abenteuer. Wer die Wohnung verlassen will, muss auf eines der wenigen Boote warten, mit denen der Bundesgrenzschutz einen provisorischen Fährverkehr aufrechterhält.

„Das Hochwasser 1993 war eine Zeitenwende“, sagt Meinhart Rick. Die Wucht und Gewalt, mit der der Rhein diesmal über die Ufer trat, hatten auch die ältesten Anwohner noch nicht erlebt. Frühere Fluten waren den Familien samt Bekannten und Freunden Anlass, sich zu treffen, und gemeinsam die aus den Kellern geborgenen Alkoholvorräte trocken zu legen. 1993 gab es keine Hochwasser-Feten mehr. Da stand mit den rasant steigenden Fluten die ernste Bedrohung in Straßen und Häusern; die Leute spürten, dass es noch schlimmer kommen könnte.

Als nur 13 Monate später erneut eine Jahrhundertflut kam, die stellenweise sogar noch ein paar Zentimeter höher stieg, war man dank der Erfahrung von 1993 schon besser vorbereitet. Die Ricks hatten ein Wohnungsfenster zum Ausgang aufs Garagendach umgebaut, und vom Garagendach aus waren die Rettungsboote bequemer zu besteigen. Die elektrischen Verteilerkästen befanden sich nun hoch an den Wänden; in technischem Sinne hatten die meisten Rheinanwohner „nachgerüstet“. Deshalb auch haben die Beueler Rheinanlieger die Flut 95 nicht als so schlimm in Erinnerung.

Den Rhein verlassen? Für Meinhart Rick ist das kein Thema. „Dann haben wir eben eine Woche Hochwasser, aber das ganze Jahr den fantastischen Ausblick. Also erträgt man das.“ Und wie war das mit dem Garten? „Da blühten plötzlich lauter Pflanzen, die wir nicht kannten.“

 

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