Der Strom hat keinen Auslauf mehr



>Bonn - Der Ingenieur Johann Gottfried Tulla, der 1817 im Auftrage der badischen Staatsregierung damit begann, den Oberrhein zu begradigen, hat sich in der Bevölkerung einen Titel erworben, in dem noch heute der Dank einer geplagten Anwohnerschaft des Flusses zum Ausdruck kommt: „Als Bändiger des wilden Rheins“ wurde der Mann bezeichnet, auf den der erste bedeutende Eingriff in eine Flusslandschaft in der geschichtlichen Neuzeit Europas zurückführt. Tulla hatte damals Großes im Sinn: „Wird der Rhein rektifiziert, so wird alles längs diesem Strom anders werden.“

Mit diesem Spruch leistete der Ingenieur auch ein Stück ungewollter Prophetie: Denn die langfristigen und schwerwiegenden Folgen des Rhein-Ausbaus, der dann bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts reichte, konnte er noch gar nicht absehen. Als Tullas Wasserbauer am Oberrhein zu graben begannen, schlängelte sich der Fluss meist gemächlich, aufgespalten in zahllose Arme, durch die Landschaft. Links und rechts des Rheins dehnten sich Sümpfe und Auwälder aus, Brutstätten der Mücken, die den Menschen am Fluss die tödliche Malaria brachten. Und mit jedem neuen Hochwasser suchte sich der Rhein einen neuen Lauf, so dass manche Dörfer mal am linken und mal am rechten Ufer des Hauptstroms lagen. Die Schiffer stöhnten unter den Gefahren neuer Sandbänke. Die Bauern mussten um Vieh, Land und Ernte bangen. Kein Wunder, dass ihnen Johann Gottfried Tulla als Wohltäter erschien.

Der Baumeister am Rhein hat freilich eine Entwicklung in Gang gesetzt, die letztendlich die Begradigung des Flusses zwischen Basel und Worms zur Folge hatte. Als dieses Werk vollendet war, hatten Tulla und seine Nachfahren die Flussstrecke des Rheins zwischen beiden Städten von 354 auf 273 Kilometer - um rund 23 Prozent - verkürzt. Mit weit reichenden Folgen: Das Gefälle des Flusses nahm zu, der Rhein grub sich schneller und tiefer in sein Bett, weil die Fließgeschwindigkeit erheblich gestiegen war. Der Grundwasserspiegel sank vielerorts so tief, dass die Pflanzen der umliegenden Auwälder „verdursteten“. Sie waren hinter den neuen Deichen ohnehin schon bald der Bebauung oder der intensiven Landwirtschaft preisgegeben.

Tullas Nachfahren erkannten dann mit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts erst richtig die Bedeutung des Stroms als „Wasserstraße“. Mit Hilfe von Buhnen und durch Ausbaggern des Flussbetts verschafften sie den - nunmehr motorisierten - Frachtschiffen eine ausreichende Fahrrinne auch bei Niedrigwasser. Doch den wahren wirtschaftlichen Nutzen zwangen die Anlieger dem Rhein dann in den Jahren zwischen 1928 bis 1977 ab, als nacheinander parallel zum Fluss zwischen Basel und Iffezheim Seitenkanäle und eine ganze Kette von Staustufen zur Stromerzeugung gebaut wurden.

Dass die Rheinschiffe auf den Seitenkanälen des Rheins zügig fahren konnten, galt - und gilt - lediglich als Nebeneffekt der großen Flussregulierung in diesen Jahren. Durch das zubetonierte Kanalsystem werden heute rund 90 Prozent des Flusswassers geleitet; dem „Rest-Rhein“, bleiben - je nach Jahreszeit - minimale Wassermengen.

Dieser Staustufenbau zur Energiegewinnung hat den Fluss dann weitgehend von den Überschwemmungszonen (Retentionsräume oder Polder genannt) abgetrennt, auf denen sich der Rhein zuvor bei Hochwasser ausgebreitet und solchermaßen die Bildung von Hochwasserwellen verzögert hatte. Mit verheerenden Folgen für die stromab liegenden Gemeinwesen. Im begradigten Oberrhein samt seinen Seitenkanälen, dessen Wasser sich nicht mehr in den Auwäldern, auf Wiesen und Feldern verteilen können, rollen heute die Flutwellen in einer Geschwindigkeit zu Tal, wie sie sich Johann Gottried Tulla und seine Zeitgenossen nicht haben vorstellen können.

Alfons Henrichfreise, Rhein-Experte beim Bundesamt für Naturschutz in Bonn, registriert und erforscht die Folgen der Flussregulierungen seit 30 Jahren. Er sagt: „Hauptsächliche Ursachen der Beschleunigung des Oberrhein-Abflusses sind die drastische Verengung seines Überschwemmungsraums und die glattwandigen Betonkanäle. . . Vor Staustufenbau durchflossen Hochwasser die 200 Kilometer lange Strecke von Basel bis Karlsruhe noch gemächlich in etwa drei Tagen; heute jedoch werden Rekordzeiten bis zu 24 Stunden erreicht.“ Und Henrichfreise verweist auf einen beängstigenden Effekt des seit nunmehr einem halben Jahrhundert bestehenden „Fluss-Tunings“: „Dabei wird der natürliche Sicherheitsabstand zwischen Rhein- und Nebenflusshochwassern derart verkürzt, dass sich diese häufig überlagern. Seit Inbetriebnahme der letzten Stauhaltung (Iffezheim 1977) häufen sich daher große Hochwasser sogar während der Vegetationsperiode.“

Nachzulesen sind diese Ausführungen in dem Erdkundebuch „Terra - Landschaftszonen und Stadtökologie“ des Klett-Perthes-Verlags für die Sekundarstufe II, in dem das Phänomen der Hochwasser allgemein und speziell das Rheinhochwasser von 1995 mit seinen Auswirkungen auf weite Teile der Stadt Köln dargestellt sind. In diesem Buch schildert Reinhard Vogt, Leiter der Kölner Hochwasserschutzzentrale, den Schülern auch, warum in Köln und Bonn die bereits am Oberrhein beschleunigten Hochwasser voll die Pegelmesser hinaufklettern können: „Zwischen Frankreich, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wurde vertraglich ein Reglement vereinbart, das die Flutung der Rückhalteräume am Oberrhein ausschließlich zum Abbau der Abflussverschärfung für einen konkreten Oberrheinabschnitt südlich Worms regelt.“ Dort liegt viel chemische Industrie.

 

Den Kölner Stadt-Anzeiger jetzt online abonnieren!

Copyright 2002 Kölner Stadt-Anzeiger. Alle Rechte vorbehalten.